GESCHICHTENERZÄHLEN ZUM ÜBERLEBEN
Ein Gespräch mit Regisseur THORLEIFUR ÖRN ARNARSSON
ANIKA STEINHOFF (Dramaturgie) Man kann sagen, dass dich mit dem Stück PEER GYNT eine besondere persönliche Beziehung verbindet. Wie würdest du diese beschreiben?
THORLEIFUR ÖRN ARNARSSON Meine Eltern haben sich als Statisten bei PEER GYNT kennengelernt. Und eine meiner ersten Bühnenerfahrungen war, dass ich einen von den Trollen gespielt habe – in der Inszenierung meiner Mutter, in der mein Vater Peer Gynt gespielt hat. So habe ich meinen Vater jeden Abend auf der Bühne sterben sehen. Mit meiner ersten PEER GYNT-Inszenierung 2011 in Luzern habe ich eine Art Durchbruch gefeiert, weil ich da in gewisser Weise das Familienerbe aufgenommen und auf eigene Art verarbeitet habe. Schon damals habe ich gewusst, dass PEER GYNT einer der Stoffe mit universellen Fragen ist, die mit einem so verbunden sind, dass man diesen in unterschiedlichen Lebensetappen immer wieder begegnen wird und begegnen möchte. Und als Künstler hat man mit Stoffen, die man so gut kennt, die Möglichkeit, zu überprüfen, wie es gerade um das eigene Leben steht, aber auch um die Zeit, in der wir leben.
AS Peer Gynt ist eine rätselhafte Figur. Wie liest du diese Figur? Wofür steht sie für dich?
TÖA Das Stück zielt darauf ab, die absoluten Kernfragen zu stellen: Wer bin ich? Wie finde ich heraus, wer ich bin? Wie navigiere ich das komplexe Selbst bei all der Reibung mit der Welt, die so viel von einem will und zu der man sich verhalten muss? Da ist diese Figur auf eine interessante Art so etwas wie ein Prototyp für den Menschen in einer kapitalistischen Welt. Das Stück wurde in der Zeit einer Neu-Definition des Individuums und des Aufbruchs von alten Machtsystemen geschrieben. Man hat eine Figur, die aus einer ursprünglich reichen Familie kommt, die aber in der vorigen Generation alles verloren hat. Das Einzige, was man ihr auf den Weg mitgegeben hat, ist die Fähigkeit, sich über die Geschichte, die man sich selbst erzählt, zu definieren. Aber was wird aus einem, wenn man sich dauerhaft selbst definiert? Wer ist man dann?
Heutzutage ist es ein zentrales Thema, dass wir permanent ‚Ich-Geschichten‘ in die Welt senden, um uns besser zu verkaufen. Sind zum Beispiel Influencer:innen sie selbst oder sind sie Verkaufswaren? Wird das Ich zu einer Verkaufsware gemacht? Das ist genau das, was Peer Gynt macht und was ihn so viel vom Leben verpassen lässt. Und das trifft dann wiederum auf unsere Arbeit am Theater zu. Alles, was wir machen, entsteht für eine Öffentlichkeit. Wie mache ich meine eigenen Fragen und Interessen vermittelbar und versuche gleichzeitig, mich von der Reaktion auf diese Vermittlung nicht abhängig zu machen? Deswegen wird das Stück, glaube ich, auch von so vielen Theatermenschen geliebt, weil es auf eine Art auch unsere Realität spiegelt.
AS Auf der Reise durch sein Leben begegnet Peer Gynt unterschiedlichen Figuren aus sehr unterschiedlichen Welten. Was sind das für Begegnungen und was sind das für Welten, mit denen er konfrontiert wird?
TÖA PEER GYNT ist letztendlich eine Art Stationendrama. Ich finde, der Kern des Stücks kommt am Ende sehr stark zum Vorschein, obwohl diese metaphysischen Elemente ja von Anfang an da sind. Ich will das enger miteinander verknüpfen, dass die zentralen Fragen, denen er sich stellt oder denen er sich nicht stellt, von Anfang an im Raum sind. Das heißt, die Stationen des Lebens sind eher Rückblicke auf sein Leben in der Auseinandersetzung mit dem eigenen Tun.
AS Die Figuren, denen er begegnet, sind weniger psychologische Figuren, die für sich selbst stehen, sondern eher Auslösemomente, Spiegelungen oder Impulse für Peer Gynt – auch auf der Ebene anderer Welten, die mit unserer Realität nichts zu tun haben.
TÖA Oder ganz viel mit unserer Realität zu tun haben. Für mich stellt das eigentlich keinen Widerspruch dar. Wir beobachten uns in unserem Bewusstsein, indem wir durch die Welt laufen und diese Welt wahrnehmen. Das ist sowieso ein Grundgesetz bei mir im Theater, dass dieses Bewusstsein des eigenen Tuns besteht, während man etwas tut.
AS „Gedacht ist gehandelt.“ Ist das nicht ein Kernsatz in PEER GYNT?
TÖA Ja, obwohl das, wie ich finde, nicht ganz zutrifft. In Peer Gynts Fall ist das so, das ist sein Prinzip: Indem er etwas erzählt, etwas in die Welt setzt, macht er es zur Realität und so wird er auch erfolgreich. Aber die Kosten dafür werden im Stück auch verhandelt. Es geht mir um eine konsequente Auseinandersetzung mit dem Sein in einer Zeit des Scheins.
AS Die Welt der Trolle – was ist das? Für dich als Isländer hat es ja eine andere Selbstverständlichkeit, dass es diese Welt gibt oder geben könnte.
TÖA Allein angesichts der Vulkanausbrüche in Island kann man dort nicht herumspazieren als Beherrscher der Natur. Ich glaube, wenn man in so eine Welt aufbricht, in der das Wetter eine so große Rolle spielt und das Leben bestimmt, ist das Geschichtenerzählen auch ein Bestandteil des Überlebens. Damit verschiebt sich diese klare, rationale Realität, denn Natur ist nicht rational und unsere Auseinandersetzung mit ihr ist auch nicht rational.
AS Henrik Ibsen hat das Stück ursprünglich als dramatisches Gedicht konzipiert und erst später eine Bühnenfassung erstellt. Mit welchem Genre haben wir es hier zu tun? Ist es ein Märchen, ist es eine philosophische Parabel – wie würdest du es einordnen?
TÖA Ein besonderer Reiz des Stücks besteht darin, dass es ein dramatisches Gedicht ist. Und wenn es in die Fantasie oder ins Metaphysische geht, ist der Weg kürzer, weil es in einer Kunstsprache geschrieben ist. Man merkt es, dass man im Alltagsleben, wenn man an einem solchen Stück arbeitet, automatisch anfängt zu reimen. Man denkt manchmal: Das Leben wäre doch schöner, wenn man dauerhaft so sprechen würde. Ich glaube, das Stück ist genresprengend. Ibsen war jung, als er das Stück geschrieben hat. Man hat den Eindruck, es ist so aus der Hüfte geschossen. Teilweise ist es ein dramatisches Gedicht, aber dann ist es auch wieder ein ganz klares Stationendrama. Es ist philosophisch und zugleich sehr menschlich. Es erzählt vom Bauernleben und gleichzeitig von den ganz großen Fragen des Kapitalismus und des Selbst in Zeiten der Selbstvermarktung.
AS Peer wächst ohne Vater auf. Seine Mutter Aase und er leben verarmt auf einem Hof in einer – heute würde man sagen – eher toxischen Beziehung. Was ist das für eine Dynamik? Welchen Einfluss hat Aase auf das Leben ihres Sohnes?
TÖA Das Einzige, was sie ihm schenken kann, sind die Geschichten, denn etwas Anderes hat sie nicht. Ich sehe Parallelen zwischen Aase und Mutter Courage. Sie agiert so gut, wie sie kann, in unmöglichen Umständen und sie muss damit kämpfen, dass das, was sie ihm auf den Weg mitgibt, ihn später so zerbrechlich und schwach und unglücklich macht. Aber sie hat auch keine Alternativen.
AS Du hast Peer Gynt mit einer Schauspielerin, Mavie Hörbiger, besetzt. Wie kam es dazu?
TÖA Wenn ich über Besetzungen nachdenke, denke ich nicht in Kategorien, sondern suche die richtigen Menschen. Mavie und ich haben jetzt mehrmals zusammengearbeitet und angesichts der Breite ihres Könnens, ihres Agierens zwischen Klamauk und tiefster Erschütterung, ihres Umgangs mit Sprache dachte ich: So jemand ist prädestiniert, Peer Gynt zu spielen. Sollte man dann nur wegen des Geschlechts sagen, das geht nicht? Mir geht es nicht um die ganze politische Debatte, die darüber herrscht. Wir spielen ein Stück aus dem Kanon, in dem Frauen kaum vorkommen, vor allem wenn sie ein bestimmtes Alter erreichen. Und Mavie Hörbiger ist einfach eine fantastische Schauspielerin, die so eine Rolle fantastisch spielen kann. Dass es da zu einer gewissen Reibung kommen kann, finde ich interessant. In Teilen ist Peer Gynt eine sehr ‚männliche‘ Figur, aber die Fragen, die da gestellt werden, sind universell und betreffen uns alle. Ich würde diese Besetzung am liebsten gar nicht thematisieren und als Cross-Gender-Besetzung bezeichnen, sondern nur mit der Qualität der Schauspielerin begründen.
AS Peers Getriebenheit, sein Maximalismus, seine Suche nach dem wahren Ich bei ständigem Wechselspiel seiner Identitäten und Lebensentwürfe erscheint, als hätte Ibsen – fast vorausschauend – einen sehr modernen Menschen entworfen, der uns heute nahe ist.
TÖA Das ist genau das, was Ibsen mit den ganz großen Dichtern wie Shakespeare verbindet: Er war ein Denker, der eine Prognose machen konnte, was auf uns zukommt, wenn diese Eigenschaften in den Vordergrund rücken. Und diese Eigenschaften sind in den Vordergrund gerückt und damit hat es etwas Prophetisches. Das ist eine zweihundert Jahre alte Figur, die so modern erscheint, als wäre sie heute Morgen geschrieben worden. Und sie wird immer aktueller. Ibsen hat die Strömung seiner Zeit auf eine interessante Art gelesen und hochgerechnet. Und er ist Peer gegenüber unfassbar kritisch und gleichzeitig total zugewandt. Das ist ja das Tolle an der Figur: Man kann von Peer mitgerissen sein und gleichzeitig kann man den Zweifel, dass er nicht ganz in Ordnung ist, nicht loswerden. Diese Ambivalenz trifft auch auf unsere Existenz heute zu.
AS Peers größtes Ziel ist es, Kaiser zu werden.
TÖA Peer geht es darum, so zu leben, dass ihm keiner was wegnehmen kann, dass er über sein eigenes Schicksal bestimmt. Vielleicht glaubt er auch, sich in dieser Position noch stärker zu spüren, noch näher an die großen Ideen und großen Gefühle heranzukommen, denen er sein Leben lang hinterherjagt.
AS Er wird schließlich ja auch Kaiser – allerdings in einem „Irrenhaus“ in Ägypten. Was ist das für eine Weltbeschreibung, die Ibsen da vornimmt?
TÖA Der ganze Afrika-Teil ist interessant, weil man den Eindruck hat, dass da viel Kolonialgeschichte mitschwingt. Gleichzeitig hat dieser Teil viel Ironie: Du wirst erst wirklich Kaiser, wenn du im „Irrenhaus“ ankommst. Vielleicht ist das auch eine Aussage über die Macht als solche. Ibsen verrät seine Haltung gegenüber den Figuren und der Geschichte nicht. Das Stück ist einerseits sehr witzig, skurril und verrückt und andererseits ist Peer Gynts Reise eine Metapher für unsere eigene Lebensreise, mit der wir uns verbinden und identifizieren können.
AS Man könnte sagen, Peer ist in seiner Egozentrik radikal und verhält sich in seiner Phase als Kapitalist skrupellos und amoralisch. Warum kann man ihn trotzdem mögen? Was macht ihn dennoch liebenswert?
TÖA Peer hat etwas sehr Neugieriges, Lustvolles. Er ist jemand, der positiv in die Zukunft schaut und sich von Rückschlägen nicht aufhalten lässt und seine Vergangenheit – sei sie noch so negativ – gut hinter sich lassen kann. Er versteht einen Neubeginn nicht als Scheitern. Er hat etwas Kindliches, Naives. Was macht Steve Jobs liebenswert? Oder Bill Gates? Bill Gates gründet eines der größten Imperien der Weltgeschichte und nützt Geld, um Malaria in Afrika zu bekämpfen. Peer Gynt treibt Menschenhandel und sagt aber sofort, dass er den Gewinn verwendet hat, um Spitäler und Schulen zu bauen. Ibsen setzt seine Kritik an seiner Zeit genau an dieser Stelle an. Haben wir heute unsere kritische Sicht darauf verloren? Man kann nicht sagen, dass jemand, dessen Privatbesitz größer ist als das Einkommen der Hälfte der Weltbevölkerung, moralisch handelt.
AS Bei Peer Gynt spielt die Angst vor dem Mittelmaß eine große Rolle – worin dann ja auch der große Konflikt mit dem Knopfgießer besteht.
TÖA Ja, wer will am Ende seines Lebens feststellen, dass er sich sein ganzes Leben nur im Mittelmaß bewegt hat? Das Spannende ist größer. Interessanterweise hat er ja auch keine Kinder. Er hat keine Familie.
AS Solveig, Peers große Liebe, wartet im Stück vor allem passiv ihr Leben lang auf seine Rückkehr. Wie liest du diese Frauenfigur?
TÖA Es gibt Dinge im Leben, die man tut und die nicht mehr einzuholen sind. Dafür steht Solveig – für die unwiderrufliche Sünde, die Peer begeht. Ibsen arbeitet in seinen Stücken oft mit einer starken Symbolik – erst als Peer sich mit seiner Lebenssünde beschäftigt, kann er zur Ruhe kommen. Die Geschichte mit Solveig ist über das ganze Stück gespannt, weil Ibsen Peer eine ‚Kernruhe‘ wegnehmen wollte. Um diese Leere rudert Peer dauerhaft herum, weil er sich nicht traut, sich die Frage nach dem Sinn seiner Existenz, nach dem Ziel seiner Lebensreise zu stellen. Das Ich ist bei ihm, so wie bei uns allen, etwas Flüchtiges, nichts Statisches. Als junger Mann lockt Peer eine ganz junge Frau aus ihren Familienverhältnissen und nimmt sie mit auf die Heide – und nur weil er Angst hat, verlässt er sie. Jeder kann in seinem Leben auf diese Art Leerstelle schauen.
AS Wo man sich selbst verraten hat? Wo man etwas von sich abgespalten hat?
TÖA Ich glaube zutiefst, dass man sich dem stellen muss, wovor man am meisten Angst hat, um Frieden mit sich schließen zu können. Und das passiert – wie bei Peer Gynt – oft erst durch Katastrophen oder durch den Tod, wenn man etwas nicht mehr verdrängen kann. Im Leben wie im Theater ist es ja oft so, dass wir bei anderen genau erkennen, was das Problem eines Menschen oder einer Figur ist – und es viel schwieriger ist, das bei sich selbst zu sehen. Solveig ist am wenigsten eine ‚Figur‘ im Stück. Sie ist ein Symbol, die für etwas tief Menschliches steht. Sie hat eine ungeheure Bedeutung im Stück, aber wenn man sie aus der Figurenperspektive betrachtet, ist sie überhaupt nicht spannend.
AS Solveig und Peer Gynt sind sich trotzdem ähnlich in der Radikalität und Kompromisslosigkeit, wie sie ihren jeweiligen Lebensentwurf leben. Man kann Solveig mehr Eigenständigkeit zuschreiben – während Peer durch die Welt rennt, hat sie sich für ein Leben in der Natur und in der Einsamkeit entschieden. Ist das nicht auch ein Weg zur Erkenntnis?
TÖA Ja, sie steht definitiv für einen anderen Lebensentwurf. Aber aus der Figurenperspektive ist das schwer darzustellen.
AS Was gehört zu einem gelingenden Leben? Und führt Peer ein solches?
TÖA Auch da gibt Ibsen uns keine klare Antwort. Vielleicht auch, weil man auf solche Fragen keine klaren Antworten geben kann und geben soll. Was Peer fehlt, ist die Fähigkeit, die Reise des Lebens zu genießen, so wie sie ist, weil er ständig auf die andere Straßenseite schaut und sich fragt, ob es dort drüben vielleicht schöner ist. Das ist ein Auslöser für ein unglückliches Leben. Zu viel Zufriedenheit kann aber genauso dazu führen, dass man seine Träume nicht realisiert. Man muss wahrscheinlich lernen, mit einer gewissen Leichtigkeit seine Unvereinbarkeit, seine innere Dialektik auszuhalten. Ohne diese Spannung würde ich aber auch nicht leben wollen.
