Martin Pollack (1944 – 2025)
Wir möchten an dieser Stelle an unseren unvergesslichen Partner und Osteuropa-Experten, Historiker und Schriftsteller Martin Pollack, der am 17.1.2025 mit 80 Jahren verstorben ist, mit einem Text über seine Arbeitsweise erinnern.
Mit Martin Pollack haben wir in den Jahren 2014 – 2018 eine Reihe GRENZGÄNGER / GRENZDENKER veranstaltet, die er inhaltlich maßgeblich geprägt hat. Unter unseren prominenten Gästen waren einige Nobelpreisträger für Literatur, wichtige süd-osteuropäische Intellektuelle, Dissidenten und Philosophen. Jede Begegnung war geprägt von dem demokratischen Freiheitsgedanken und von der intensiven Suche nach Wahrheit im Kontext der historischen Vergangenheit. Martin Pollack war ein Sammler von Fundstücken der Geschichte, die er zum großen Ganzen in seinen Texten zusammenlegte und so vor dem Vergessen bewahrt hat. Seine persönliche Lebensgeschichte und unerbittliche Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit seines Vaters und seiner Familie stand in Martin Pollacks Arbeit im Mittelpunkt.
Mit Martin Pollack verlieren wir einen wichtigen Austauschpartner und langjährigen Begleiter.
DIE BIBLIOTHEK AUF DEM LAND. SAMMELN, BEOBACHTEN, SCHREIBEN.
Wenn Martin Pollack an seinem Schreibtisch sitzt, ist es im Raum ganz still. Kein Radio, keine Musik, nur das Summen des PCs und das monotone Geräusch der Tastatur. Hin und wieder hört man von weiter unten Autos, man kann sie im Winter durch die kahlen Äste die Straße herauf- oder hinabfahren sehen. Ansonsten bleibt der Blick über die Hügel ohne Bewegung, nur die Farben der Jahreszeiten wechseln, Grün- und Ockertöne, eine insgesamt herbe Landschaft, im Winter grau, mit nur wenigen Strichen. Dann sind auch die alten Apfel- und Zwetschkenbäume starre Gerippe. Die Streuobstwiese liegt unmittelbar vor den Fenstern, von ihr erzählt Martin Pollack in manchen seiner Texte, er kann vom Schreibtisch aus direkt auf sie hinaussehen. Dahinter liegen Felder und Wiesen, über den Hügelrücken im Osten erstreckt sich ein langgezogener Mischwaldgürtel, dazwischen führt die Straße nach Rohr hinunter, ins Nachbardorf.
Die Bibliothek auf dem Land liegt 140 Kilometer von Wien, 90 Kilometer von Graz entfernt, genau am Übergang, wo das steirische Hügelland in die Ebene nach Ungarn ausläuft. Bocksdorf im Südburgenland ist ein zweigeteilter Ort: Unten in der Talsenke, die von der Strem durchzogen wird, liegt das Gemeindezentrum, oben, auf der Hügelkette, Bocksdorf Bergen, eine Streusiedlung mit Einzelhöfen. Hier, auf dem Heaberg, auf einer nach Süden abfallenden Hügelkante, steht das Kleinbauernhaus, das Martin Pollack seit zwanzig Jahren bewohnt. Es wurde 1910 errichtet und stand damals noch in Ungarn, die Amtssprache im Ort war Ungarisch.
In dieser Bibliothek geht es nicht um Repräsentation, sondern ausschließlich um Zweckmäßigkeit. Ein Schreibtisch, zwei Fauteuils, ein kleines Tischchen bilden das Interieur, und ein drei Meter langes Ablagebrett, über zwei Metallböcke gelegt, auf dem Pollack Unterlagen, vor allem aktuelles Material auflegen kann und das als provisorische Ablage mindestens so notwendig ist wie der Schreibtisch mit PC und Drucker.
Auch die Geschichte, die Zeitgeschichte, der sich Martin Pollack seit seiner Tätigkeit als Journalist und Übersetzer widmet, ist eine Ansammlung seltener Fundstücke, ob das nun historische Fotografien, alte Briefe oder — unsichtbar — Erzählungen sind. Die Fundstücke der Geschichte sind Geschichten, man muss sie ebenso entdecken, aufsammeln, bewahren. Und anschließend ihre Fragmente zusammenlegen, sie deuten und zu einem neuen verbindlichen Ganzen formen: Die Arbeit des Schriftstellers, die auf die des Historikers, des Sammlers und Archivars folgt, ist die schwierigste, sie muss aus den Sammelstücken Literatur schaffen, mit ihr eine neue Wirklichkeit erfinden.
Pollacks literarisches Programm, seine ‚Poetik', klingt denkbar einfach und ist voller Leidenschaft: „Ich glaube, man muss alle Geschichten erzählen“.
Gerhard Zeillinger. Fundstücke. Versuch über Martin Pollack