HITLERGRUSS UND SONNENGRUSS GLEICHEN SICH NICHT AUS

© Tommy Hetzel

von Margarete Stokowski

»Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen«, sagte der italienische Schriftsteller und Auschwitz-Überlebende Primo Levi. Aber in Deutschland hat sich ein Trick etabliert, um jeden Faschismus schon im Keim zu... na ja, nicht direkt zu ersticken, aber zumindest zu ignorieren. Wenn wir nicht aussprechen, dass wir ein Problem mit Nazis haben, dann haben wir vielleicht gar keins? 

Angeblich haben Linke diese magische Idee von Sprache: Wenn niemand mehr das N-Wort sagt, dann gibt es weniger Rassismus, und wenn alle ihre Texte gendern, dann gibt es mehr Gleichberechtigung. Was allerdings in der sogenannten bürgerlichen Mitte an Energien aufgefahren wird, um Rechtsextreme nicht rechtsextrem zu nennen, ist nicht weniger magisch. 

Man könnte allerspätestens seit dem Aufkommen der AfD gelernt haben, dass Nazis nicht zwingend eine Glatze haben und Springerstiefel tragen müssen, sondern auch Lehrer sein und beige Hosen tragen können. Aber leider scheinen viele Menschen immer noch zu denken, dass jemand, der nicht das Hakenkreuz direkt ins Gesicht tätowiert trägt oder auf frischer Tat beim Bauen eines Konzentrationslagers ertappt wird, sicherlich schon kein Nazi sein wird. Vielen fehlt es an allergrundlegendster antifaschistischer Bildung, und zwar nicht nur in der breiten Bevölkerung, sondern auch in Medien und Politik. 

Menschen, die – ob privat oder beruflich – von den Demonstrationen [gegen die Corona-Maßnahmen am 29. August 2020 in Berlin] berichteten, betonten mitunter, dass da »nicht nur Nazis« unterwegs gewesen seien. Sondern auch: Rentner, Mütter, Familien mit Kindern. Das würde Sinn ergeben, wenn bekannt wäre, dass Nazis nicht über 60 Jahre alt werden können und sich auch nicht fortpflanzen. 

Es erinnert mich an einen Text von Deniz Yücel, der 2014 von einer Pegida-Demonstration für die »taz« berichtete. Er tritt an eine Gruppe von Männern heran, um herauszufinden, ob sie Nazis sind: »Hier sind keine Nazis«, sagt einer von ihnen. »Ich bin Maler, hier gibt es Professoren, Polizisten, Hausfrauen – alles.« Woraus Yücel schließt: »Offenbar gilt Nazi hier als eigener Beruf.« 
Das könnte theoretisch lustig sein, wenn es nicht so aktuell wäre: Auch über die Demos vom Wochenende wurde behauptet, dass da ja auch Menschen aus ganz anderen Ecken gewesen seien, eine Heilpraktikerin hier, eine Ingenieurin dort. Als würde das irgendetwas sagen. 

Es ist nicht ausgemacht, dass alle diese Menschen eine rechtsextreme Einstellung hatten. Aber sie waren bereit, auf einer Demo unterwegs zu sein, auf der Rechtsextreme sehr präsent waren, und man hätte das vorher wissen können. Antifaschist:innen waren sie ganz sicher nicht, denn Antifaschist:innen gehen nicht auf Naziveranstaltungen, außer um sie zu dokumentieren oder zu sprengen. 

Dass Menschen, die »ganz normal« aussehen, Berufe und Kinder haben, mit Rechtsextremen zusammen demonstrieren, ist keine entspannende, sondern eine beunruhigende Botschaft. Es gibt keine mathematische Formel, laut der sich eine Reichsflagge und eine Regenbogenflagge gegenseitig neutralisieren, und auch ein Hitlergruß und ein Sonnengruß heben einander nicht gegenseitig auf.

Margarete Stokowski: Hitlergruß und Sonnengruß gleichen sich nicht aus. In: Der Spiegel, 1.9.2020 

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