JOHANN HOLTROP: Autor Rainald Goetz im Gespräch

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© Tommy Hetzel

MAXIMAL GEGENWÄRTIG

Die allerjüngste Vergangenheit ist stärker vom Vergessen betroffen als die fernste Ferne. Auf welchem Punkt des Zeitstrahls steht »Johann Holtrop«? Es war schon beim Erscheinen ein historischer Roman. Aber den Nachhall des Weltzustands, den der Text untersucht, spüren wir doch bis heute, oder?

Reinald Goetz: Ja, die verrückte Zeitvertreibung aus der Gegenwart, der Werke, des Ich. Ich denke ja immer, es ist alles da, es ist alles klar, ich muss es nur noch kurz hinschreiben, es geht ganz schnell. So war es auch bei »Johann Holtrop«, als ich 2009 direkt nach »loslabern« damit anfing. Da war die Finanzkrise von 2008 noch ganz gegenwärtig, sie hatte den gesamten Bereich der Wirtschaft grell ins kollektive Bewusstsein gebracht, und so wollte auch ich plötzlich all das verstehen: Wie ist es mit dem Geld, den Krediten, den Banken, den Unternehmen, wie ist dieses gigantische Räderwerk im Einzelnen gemacht, dessen Komplexitäten die Gesellschaft in jedem Vollzug fundamental, zugleich fast immer unbemerkt bestimmen? Immer wenn Krise ist und die Zeitungen und sonstigen Medien, quasi monothematisch gleichgeschaltet, voll sind von diesem EINEN aktuellen Thema und Weltausschnitt, kann man besonders viel Neues, vor allem auch Spezialisiertes, Kompliziertes darüber erfahren, weil die Energie der Ereignisse in die Berichte und Erklärungen der Wissenden übergeht und man selbst, von der kollektiven Neugier wunderbar mitgetragen, täglich neu all das immer sofort auch lesen, aufnehmen, verstehen und vertiefen möchte. Lust. Es ist die Lust an Gesellschaft, Öffentlichkeit, Krise, Gegenwart und Denken. So war es jetzt gerade zwei Jahre mit Corona, so ist es jetzt erneut und aktuell besonders drängend mit dem Krieg.

Aber die Literatur biegt in der Bearbeitung der Dinge dann in einen ganz eigenen Sonderweg ab, denn sie nimmt sich Zeit, so viel Zeit, wie sie braucht, um aus den Abstrakta des theoretisch Verstandenen den Weg zurück zu den handelnden Personen zu finden, zu den Protagonisten, deren Weltbild sie studiert, in deren Weltgefühl sie sich einzufühlen versucht, um deren Habitus, ihre Erlebensweise und ihr Handeln von innen her zu verstehen. Und weil diese Studien lange dauern, die Darstellung der Ergebnisse nicht nur der Weltlegasthenie der Schrift, sondern auch noch einem schwer fassbaren Soundvorbehalt ausgesetzt ist, der die Textentstehung zusätzlich verlangsamt, denn auf immer wieder geheimnisvolle Art muss man für jeden Text eine soundmäßige Stimmigkeit finden, in der alle, Welt, Figuren und das Autor-Ich, zusammenstimmen, dauert die Niederschrift eines Romans wie »Johann Holtrop« dann plötzlich tatsächlich unendliche vier lange Jahre! Und das eben noch ultragegenwärtig gelebte Leben ist, von der Erzählung erfasst, ein historischer Roman.

Beim Lesen des Buches ist zu spüren, wie der Romancier sich dem Innenleben seiner Figur immer nur bis zu einer unsichtbaren Grenze nähert. An ihr endet das Auktoriale, und es wird entweder spekulativ oder der Erzähler wendet sich diskret ab. Funktioniert dieser fast höfliche Blick auf dem Theater? Oder machen die Sichtbarkeit und die körperliche Anwesenheit der Figur auf der Bühne das kaputt?

RG: Im Gegenteil. Die Bühne ist besonders gut damit vertraut, wie Handeln, Gesagtes und im Inneren Gefühltes und Gedachtes oft weit auseinanderklaffen. Es sind ja die Schauspieler, die Körper der Schauspieler, die auf der Bühne permanent ganz direkt, material, dieses Wissen ausagieren und realisieren, dass das Innenleben der Figuren unsichtbar ist, es deshalb auf komplizierte Art nach außen getragen und körperlich sichtbar gemacht oder auch genau verschwiegen werden muss. Früher wusste die Literatur das auch. Aber seit der Entdeckung des Inneren Monologs zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts ist das Gefühl dafür oft verloren gegangen, wie nah der Autor dem Innentext seiner Figuren richtigerweise sein sollte.

Die Distanz der Diskretion sollte der Distanz zwischen Figur und Autor entsprechen, es ist außerdem schön, die Figur auf die Art in ihrer Erratik, Würde, Freiheit und Unverstehbarkeit anzuerkennen. Das lenkt den Blick auf die Inkommensurabilitäten zwischen den Handlungen und Motiven, zwischen den Aussagen der Figur, den Erzählungen von sich selbst und dem real über sich selbst Gedachten, insgeheim Verstandenen oder auch Abgewehrten. Das setzt ein Nachdenken über die Figur in Gang, im Autor, im Leser, die Figur wird dadurch bereichert, wenn der Autor sie dem Leser gegenüber nicht durch Preisgabe von zu viel indiskret mitgeteiltem Innenwissen verrät, sich dabei unangenehm ankumpelnd mit dem Leser gegen die Figur verbündet.

Die spekulative Sicht von außen verlegt das Interesse außerdem stark auf die Realität des Sozialen, die Interaktionen der Figuren mit anderen Anwesenden in einer Situation, auf die Position der Personen im Raum, auf die territorialen Dominanzaktivitäten eines jeden, die Rangsignale, Blicke, das herrisch verachtungsvolle Degradieren eines Unter durch brüskes Sichabwenden des Ober, das ganze Konzert der Grausamkeit dieser immer nur gezeigten, aufgeführten, nie explizit gemachten Kämpfe. Dann die Gegenräume der Passivität, der Transportation der Körper, im Auto, im Flugzeug, der Isolation auf Reisen, in Hotelzimmern: das Alleinsein, Träumen, Rechnen, böse Ideen, das Texten und Telefonieren.

Die Aussparung von Innentext ist eine Konstruktion, sie schreibt sich nicht von selbst, sie ist gemacht und hat in ihrer Sprödigkeit auch irritierende, die Freude am Mitgehen mit der Geschichte dämpfende, die Rezeption durch ihre Intellektualität behindernde Wirkung. Aber sie gehört ins Zentrum der Verfasstheit der Leute, die in dieser Welt der Macher, der Wirtschaft, in den Unternehmen, die handelnden Personen sind, deren inneres Zentrum, dem sie alles im Interesse ihres Handelns unterordnen, die Abwehr von Beschäftigung mit sich selbst, die möglichst perfekte Selbsterkenntnislosigkeit ist. Für die Bühne könnte dieser Typus Mensch in seiner Undurchsichtigkeit besonders gut geeignet sein. Und idealerweise würde der Stil der Diskretion auch auf der Bühne, wie im Text und in echt, so selbstverständlich funktionieren wie höfliche Interaktion unter Freunden.

Ist das Schreiben über die Geldwelt eigentlich schwerer als das über Politik und Party  und Staat und Gesellschaft? Stelle ich mir jedenfalls schon so vor, weil diese Welt besonders kalt und entkernt ist bzw. der Kern so banal ist (Geld, Gewinn, Mehr). Oder anders gefragt: Kann man ohne Empathie für seine Figuren schreiben? Findet man sie immer, die Empathie?

RG: Es stimmt, es sind komplett andere Menschen, wie gesagt, die die Geldwelt regieren, in ihr agieren und von ihr regiert werden. Aber der Kern der Geldwelt ist maximal unbanal, maximal interessant und so unkalt ultrahocherhitzt wie der Atomreaktor im Inneren der Sonne. Das war ja die provokative Lehre der Finanzkrise gewesen, dass die normalerweise in Armut lebenden Intellektuellen und Schriftsteller mit ihren konsequenten Reserven dieser Welt gegenüber (ich, lebenslang: Ich habe ANGST vor Geld) dem Weltbereich des Geldes falscherweise nicht wirklich gerecht werden können, weshalb sie diesen für die Gesamtgesellschaft so zentralen Bereich zu wenig gut erkennen, in ihren Werken nur ungenügend gut erfassen und darstellen können. Muss das so sein? Das war die von der Finanzkrise an die Literatur gerichtete Frage.

Die Untersuchung hat dann ergeben, dass nicht das Geld entkernt ist, sondern die Menschen, die sich dem Geld zu sehr nähern, vom Geld entkernt werden, das Geld reißt die gesamte Existenz derer, die sich ihm zu sehr öffnen, an sich, ihr Denken, ihren Willen, ihre Ehre und ihr gesamtes Fühlen, zerstört die Menschen auf die Art von innen her, im Inneren. Deshalb sind das schreckliche, aber äußerst interessante Figuren, gerade für die Literatur, denn tatsächlich führen diese Leute eine von vielen gegenteiligen Proklamationen verdeckte, innenlebenfreie Existenz. Deshalb passte der paradigmatische Geldweltmensch Johann Holtrop, gerade von seiner Position in der Welt und dem davon bestimmten Wesen her, so gut zu dem von mir beabsichtigten Roman, zu dem Stil der Diskretion, den ich für ihn finden wollte, als eine von sich selbst, seinem Inneren besonders weit entfernte, sich selbst fremde Figur.

Empathie entsteht dabei im Leser, das war meine Vorstellung, durch das äußere Mitgehen mit dem Helden, seinem Erleben und Handeln, nicht durch die Explikation von dessen Gefühlen, hingegen durch dauernde Einfühlung des Texts in die SITUATIONEN, denen der Held ausgesetzt ist, in die Konstellationen mit den anderen, in all das, was normalerweise in solchen Situationen wirklich geschieht. Empathie also als ein primär intellektueller Akt, der die reale Fremdheit zwischen Alter und Ego ernst nimmt. Deshalb würde eine solche Empathie sich nicht in der Anrufung von Gefühlen realisieren, sondern in der Explikation von Möglichkeiten, die Figuren zu verstehen, in Spekulationen, was man über ihr Miteinander denken könnte, in Reflexionen und Theorie, und zwar nicht in Theorie von der Psyche des Menschen, sondern vom Sozialen, in Soziologie, Empathie also als Empathie in Theorie der Gesellschaft, so irr das klingt, so ernst ist es gemeint. Von dieser Seite seiner Ambition her hat der Roman seinen herrlich crazy Untertitel »Abriss der Gesellschaft«.

Was kann »Johann Holtrop« uns zum Heute erzählen? Ist der Roman – aus der Gegenwart betrachtet – eine Ursachenforschung? Resultiert unsere verstörte Gegenwart aus den Verwerfungen der Nullerjahre? Oder existiert sie unabhängig davon?

RG: Die Antworten weiß ich selbst nicht, aber vielleicht kann die Theateraufführung des Romans sie geben. Denn es ist ja die Gegenwart, und gerade das Theater als Inbegriff der Gegenwartskunst, die solche geschichtsphilosophischen Fragen selbst an die Werke richtet und in Auseinandersetzung mit ihnen die Antworten entwickelt. Das Werk ist im Resultat eine Zeitkapsel, die bestenfalls die vergangene Gegenwart erkannt und in sich aufgenommen hat, und man wird seinem analytischen Potenzial umso besser gerecht, je mehr man seine Fremdheit der heutigen Gegenwart gegenüber anerkennt. Auch hier plädiere ich also für ein Gefühl für angemessene Distanz. Es ist ein Weg der Indirektheit, deshalb besonders reizvoll, zur Analyse der Gegenwart auch Vergangenes, etwa mittelferne Werke, mit heranzuziehen.

Es sind Distanzen der mittleren Ferne, auf die ein stark auf Gegenwart gerichtetes Schreiben, so wie ich es betreibe, im Ergebnis eingestellt sein muss. Das ist die Erfahrung, die ich immer wieder gemacht habe, besonders extrem bei der Erzählung »Rave«, die bei ihrem Erscheinen 1998 historisch war gegenüber dem Feiern von 1992, dem sie sich verdankte. Es ist schade, dass man künstlerisch, also mit den eigenen Werken, nie wirklich in genau der Gegenwart ganz präsent und aktiv sein kann, in der man als Autor selbst völlig aufgeht, aber es hat auch eine eigene Qualität. Denn es steigert das Gefühl für die Gleichzeitigkeit des Daseins und Wirkens aller unterschiedlichen Weltbereiche, die alle permanent weiter anwesend sind und fortwährend auf die Welt einwirken, auch wenn sie aktuell gerade nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit sind.

Folter wird Element auch des aktuellen Krieges sein, auch wenn die Exzesse von Abu Ghraib, wie sie in »Reich des Todes« vorkommen, historisch sind. Auch die Wirtschaft bleibt gegenwärtig so zentral, wie sie es in »Johann Holtrop« ist, so fragil, omnipotent und kaputt, sodass im Moment in der Rüstungsindustrie genau solche Leute wie die Figuren des Romans an vielen Stellen daran arbeiten werden, einen möglichst großen Teil der 100 Milliarden Euro, die der Staat jetzt in die Rüstung investieren will, möglichst direkt in die Kassen der jeweils eigenen Firma zu lenken. So wie zu Coronazeiten der Maskenmangel und der folgende Boom der Maskenbeschaffung bei den für diese Dinge empfänglichen Personen die allerverrücktesten Geschäftsideen und tatsächlich genauso verrückte reale Deals, Provision 48 Millionen Euro, ausgelöst haben.

Die Gegenwart, die Aufmerksamkeit, die öffentliche Rhetorik geht mit ihren schnellen großen Schritten durch die Welt, wirft ihr überhelles Gegenwartslicht kurz auf einen fundamentalen Weltfakt, einen Weltkomplex, macht ihn der Gesellschaft dadurch erst richtig erkennbar, und ist schon beim nächsten Thema, Gegenstand, Wirklichkeitsbereich, wieder genauso hysterisch, monoman und insgesamt in dieser Bewegung durch die Welt faszinierend vernünftig. Das ist der schöne Geist, aus dem die Kunst gemacht ist, die Literatur als Geschichte, das Theater maximal gegenwärtig. 

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