ORLANDO: Regisseurin Therese Willstedt im Gespräch

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© Lalo Jodlbauer

Ohne Fantasie sterben wir

Jeroen Versteele: Orlando wurde vor fast hundert Jahren veröffentlicht. Warum ist es wichtig, diese Geschichte heute noch zu erzählen? 

Therese Willstedt: Einer der interessantesten Aspekte der Geschichte ist, dass Orlando immer weiterlebt. Die Figur scheint nicht älter zu werden, muss sich aber immer wieder neu anpassen. Orlando reist durch die Zeit und wir sehen durch die Augen dieser Figur, wie sich die Gesellschaft und der Zeitgeist verändern. Wir sehen auch, wie Orlando sich immer fehl am Platz fühlt. Er versucht, sich den Konventionen anzupassen, er will Teil der Gesellschaft werden, möchte ihr aber gleichzeitig entfliehen. Dieses ständige Gefühl der inneren Zerrissenheit kenne ich sehr gut. 

JV: Orlando gehört eine Familie von Adeligen an, er macht Karriere am königlichen Hof. Warum sollten wir den Problemen eines solchen Privilegierten Aufmerksamkeit schenken?

TW: Orlando ist privilegiert, aber das sind die meisten von uns in der westlichen Gesellschaft. Und mit Privilegien kommt Verantwortung. Wer findet, es sollte sich etwas ändern, sollte das bitte schön auch machen. Warum ist es so schwer, wenigstens das eigene Verhalten zu verbessern? Wir ändern uns nur mit großer Mühe. Orlando ist in gewisser Weise verwöhnt. Er kann es sich leisten, seine Gefühle zu analysieren, die Welt zu beobachten, ein Zeuge der verrinnenden Zeit zu sein. Aber das ist Teil seines Schmerzes: So viel Zeit zu haben, die Gesellschaft beobachten zu können, anstatt wirklich Teil von ihr zu sein. Er ist ein Außenstehender wider Willen. 

JV: Was können wir von Orlando lernen? 

TW: Dass unsere Identität – genauso wie die Gesellschaft, in der wir leben – eine Konstruktion ist. Warum verhalten wir uns so wie wir es tun, warum haben wir diese oder jene Gedanken? Wo kommen meine Fantasien und Ängste her? In welcher Zeit wurzelt mein Geist, in welcher Kultur, Vergangenheit, Geschlechtskategorie, Klasse? Durch die Figur Orlando lehrt Virginia Woolf uns auch, wie wichtig Humor und Selbstrelativierung sind. Humor war für Virginia Woolf Eskapismus und Überlebungsstrategie. Er war notwendig als Mittel der Selbstdistanzierung, als Befreiungsschlag für den Geist. 

JV: Transformation ist als Thema sehr präsent. 

TW: Wir verwandeln uns ständig, und das ist vielleicht beängstigend, aber auch wunderbar. Virginia Woolf beschreibt viele Arten der Transformation, nicht nur die des Geschlechts, auf poetische und lustige Weise. Orlando befindet sich dauernd in einer mythologischen Lebenskrise, die stattfindet „in den schmerzhaften Lücken zwischen den sozialen Masken und den geheimen, innerlichen Ichs“ („between the painful gaps between the social masks and the secret selves“). Damit meint Virginia Woolf, dass diese Person von den Gegensätzen zwischen den gesellschaftlichen Erwartungen einerseits und den eigenen Wünschen andererseits ziemlich verwirrt wird. 

Wir verwandeln uns ständig, und das ist vielleicht beängstigend, aber auch wunderbar.

JV: Wie hast du Orlando kennengelernt? 

TW: Ich habe den Roman gelesen, als ich noch ein Teenager war. Ich kann mich an einige Kapitel sehr gut erinnern, andere Teile habe ich nicht verstanden oder haben mich wegen des Detailreichtums überfordert. Ich habe das Gefühl des Nicht-Dazu-Gehörens, das Virginia Woolf beschrieben hat, stark auf mich selbst bezogen. Was ist meine Rolle in dieser Welt, wo komme ich her, möchte ich Teil dieser Gesellschaft und dieser Kultur werden? 

JV: Welche Passage in dem Roman hat dich damals am meisten berührt? 

TW: Das letzte Kapitel, in dem Orlando nach langer Zeit das elterliche Haus besucht. Während sie durch die Zimmer geistert, blickt sie auf ihr Leben zurück und fühlt sich von ihrer Vergangenheit völlig abgetrennt. Diese Erfahrung kann ich gut nachempfinden. Als ich dreiundzwanzig war, habe ich das Haus besucht, in dem ich bis zu meinem dreizehnten Lebensjahr aufgezogen wurde. Zehn Jahre lang hatte ich es nicht mehr gesehen. Ich erinnerte mich, wo der Schlüssel versteckt war, und ohne, dass ich jemandem Bescheid gesagt hatte, öffnete ich die Tür und lief durch die Zimmer. Es war, als ob ich in die Filme meiner Kindheit reinspazierte. In jedem Zimmer herrschte ein anderes Gefühl. In einigen Räumen sah ich mich selbst als glückliches Mädchen von acht Jahre. In einem anderen sah ich mich als Dreizehnjährige, während ich auf einem Stuhl saß und heulte. 

JV: Welche Rolle spielt diese Erfahrung für die Art, in der du Orlando heute inszenierst? 

TWEine Person besteht aus vielen Ichs, so lautet das Schlusswort des Romans. Wir haben versucht, diese Idee theatralisch umzusetzen. Orlando wird bei uns von sieben Schauspielerinnen und Schauspielern gespielt. Es sind Männer und Frauen unterschiedlichen Alters. Es gibt Szenen, in denen sie die Geschichte gemeinsam erzählen, sich ergänzen, korrigieren, nuancieren, und es gibt Monologe, in denen sie in die Erinnerungen eintauchen und gewisse Erfahrungen wie neu empfinden. In diesen Momenten sind sie aber nicht allein auf der Bühne, sondern werden von den andern beobachtet, begleitet und unterstützt. Alle haben eine bestimmte Haltung zu der Passage, die gerade erzählt wird. Aus welcher Perspektive erlebe ich gerade diese Erinnerung? Wenn Orlando zum Bespiel unter der Trennung von seiner Geliebten Sasha leidet, zeigen die einen Empathie, die anderen eine kritische Haltung, der älteste Schauspieler zeigt Gelassenheit: Er weiß, dass der Schmerz aufhören und die Episode letztlich überstanden werden wird. Viele Perspektiven auf eine Erinnerung zeigen zu können, ist die Kraft dieser gemeinsamen Erzählweise. Wie unerträglich und schmerzhaft manche Erinnerungen auch sein mögen, durch das kollektive Erzählen entsteht das wundersame Gefühl, dass man mit sich selbst niemals wirklich alleine ist. 

JV: Quasi in der Mitte des Romans wird Orlando, der bis dahin ein junger Mann gewesen ist, eine Frau. War es für dich in der Textverteilung wichtig, dass Männer die Männerpassagen erzählen, und Frauen die Frauenpassagen? 

TW: Wir haben uns dieser Art des Denkens sofort verweigert. Das Geschlecht war niemals ein Grund zu entscheiden, wer welche Szene spielt. Die Frauen, die Orlando als Mann spielen, sollten auch keinen Mann nachahmen, und andersherum auch nicht. Es geht darum, mit welcher Haltung eine Phase aus Orlandos Leben gesprochen und gespielt werden kann. Es geht um Orlandos Empfindungen, um das Träumen von Möglichkeiten, um Hoffnungen und Frustrationen, um Trost und Heilung, und diese Dinge können alle von Frauen und von Männern nachempfunden und gespielt werden. 

JV: Es gibt eine Szene, in der Orlando mit dem Schiff von Konstantinopel zurück nach London reist. Orlando ist gerade zur Frau geworden und wundert sich selbstironisch über die Wirkung ihrer Kleidung, über ihre neue Rolle, die Art, in der Sie wahrgenommen wird. 

TW: Es war uns wichtig, in dieser Szene kein fertiges Bild von Weiblichkeit zu zeichnen. Orlando zu spielen, ist ein ständiger Prozess, man hüpft von der einen Idee zur nächsten, wie Tilda Swinton, die Orlando in Sally Potters Verfilmung großartig gespielt hat, es einmal beschrieben hat. Wir wollen diese Strategie verfolgen und voller Ehrlichkeit und Transparenz diverse Überlegungen mit dem Publikum teilen, anstatt die eine oder andere klare Botschaft zu liefern. Wir versuchen, eindeutige Gesellschaftskritik zu vermeiden und voller Spiellust unterschiedliche Auffassungen von Weiblichkeit zu erkunden. Was macht ein Korsett oder eine Strumpfhose mit unseren Körpern, wie werden wir angesprochen und angeschaut, welche Macht haben wir verloren und welche gewonnen? 
Ich selbst fand es nicht schön, in meiner Pubertät zu einer Frau zu werden. Ich bin immer ein jungenhaftes Mädchen gewesen und habe es gehasst, einen BH, lange Kleider oder Stöckelschuhe zu tragen. Ich konnte nicht mehr normal atmen, laufen, auf die Toilette gehen. Als junge Frau wird man plötzlich nicht mehr ernst genommen. Man ist nur noch dafür da, kontrolliert, beschützt, begleitet, angestarrt oder angefasst zu werden. Als Schauspielstudentin muss man zeigen, dass man in Stöckelschuhen laufen kann. Für manche junge Frauen ist das verstörend, weil sie sich in dieser Rolle nicht wohl fühlen. Andererseits gibt es Männer, die gerne mit Kleidung für Frauen experimentieren wollen und die sich den standardmäßigen Männerbildern nicht zugehörig fühlen, ohne immer als schwul oder queer betrachtet werden zu wollen. 
Es geht mir darum, in dieser Szene einen Zustand der Gleichwertigkeit herzustellen und mit Virginia Woolf zu sagen: Alles ist möglich – du kannst dich verhalten, wie du willst, ohne ständig beurteilt zu werden. Du hast das Recht auf einen Safe Space, in dem du dich ausprobieren kannst, ohne zugeordnet oder mit Kategorien versehen zu werden. Es ist erlaubt, Zuordnungen, die einem nicht passen, zu verweigern. Wir haben versucht, Orlando aus unseren Körpern, unseren Erfahrungen und unseren Sehnsüchten heraus zu imaginieren, aus eigenen Erfahrungen zu schöpfen und die Geschichte auf eine ehrliche, persönliche Weise zu erzählen. Wenn das gelingt, können Virginia Woolfs Texte tatsächlich sehr berührend sein.  

Wir haben versucht, Orlando aus unseren Körpern, unseren Erfahrungen und unseren Sehnsüchten heraus zu imaginieren, aus eigenen Erfahrungen zu schöpfen und die Geschichte auf eine ehrliche, persönliche Weise zu erzählen.

JV: Orlando ist eine Fundgrube von philosophischen, literarischen und identitätspolitischen Motiven. Was ist für dich das größte Thema des Buches? 

TW: Ohne Fantasie sterben wir. Das, und der Gedanke, dass es viele Ichs gibt – zu viele, um diese überhaupt zu fassen. Am Ende des Romans schaut Orlando aus dem Fenster und denkt darüber nach, wer sie schon alles gewesen ist und wer sie noch sein möchte. Erst wenn sie endlich aufhört, darüber nachzudenken, stimmt sie mit sich selbst überein. Das ist sehr schön und wahr. Vielleicht sollten wir aufhören, alles zu kalkulieren und im Übermaß zu reflektieren, um so einen Zustand der Ganzheitlichkeit zu erreichen. 

JV: Wann hattest du zum ersten Mal das Gefühl, dass Theater deine Berufung ist?

TW: Ich muss an drei Momente in meinem Leben denken: Erstens erinnere ich mich, wie ich mich als zweijähriges Mädchen im Garten um meine Achse gedreht und gedreht habe. Ich hatte ein rotes Kleidchen an und habe mich stundenlang gedreht. Während ich das machte, war ich so erstaunt darüber, dass ich die Realität ändern konnte, indem ich etwas tat. Dieser Moment war für mich pure Magie. Meine Eltern haben mir später erzählt, dass ich mich fast einen ganzen Tag lang im Garten gedreht habe. Ich hatte das Gefühl, dass die Realität sich aufgelöst hat, dass ich Kontrolle und Freiheit erlangte. Das war meine erste performative Erfahrung. 
Die zweite Erinnerung erstreckt sich über meine gesamte Kindheit. Ich bin in einer Familie von Theatermachern aufgewachsen. Meine Mutter hatte eine Kompanie von Laiendarstellern. Alle, die wollten, konnten mitmachen. Ich war oft bei den Proben mit dabei und habe die Theaterwelt geliebt. Meine Eltern nahmen mich einfach überallhin mit. Ich habe sogar als Baby mitgespielt. Ich schlief manchmal neben der Bühne, während meine Eltern auf der Bühne standen. Das Spiel mit Fantasie und Realität war ein Teil meiner Kindheit. Ich kann mich daran erinnern, dass ich als Kind zwar wusste, dass Theater nicht echt war, aber wenn ich einmal in einer Szene einen Kapitän küssen musste, war das für mich sehr echt und real. Theater war für mich ein Wechselspiel von Realitäten. 
Eine dritte wichtige Erfahrung war eine Reise nach Marokko, die ich mal allein gemacht habe, als ich mich in einer Sinnkrise befand. Ich war schwanger und ich wusste nicht, was ich mit meinem Leben machen sollte. Ich wanderte zu einem kleinen Dorf in den Bergen und plötzlich fand dort ein Konzert statt. Der Himmel hatte sich magisch verfärbt, die Leute aus dem Dorf haben ein Lied darüber gesungen, dass die Haare der Frauen aussehen wie wilde Pferde. Die Frauen nahmen ihre Schleier ab und begannen, unter dem Mondlicht zu tanzen. 
Also, wenn du mich fragst, was mich inspiriert hat, sind es Momente aus dem echten Leben, in denen die Realität angefangen hat, zauberhaft zu werden, sich aufzulösen, neue Räume sich geöffnet haben. 

JV: Ist das im Theater möglich? 

TW: Daran glaube ich, ja. Nicht eine ganze Aufführung lang, aber immer wieder für kurze Momente. 

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