SCHACHNOVELLE: Über Schachnovelle

© Tommy Hetzel

Schach als Leidenschaft

Schach und andere Leidenschaften oder Stefan Zweigs Liebe zur Niederlage

Leidenschaft ist bei Stefan Zweig immer zuallererst eine Triebkraft der Physis, die Übersetzung emotionaler Prozesse in die Körper-Sprache ist auch in seinen letzten Novellen nicht subtil. Fieber und Wahn zeigen sich bei Dr. B. durch vermehrten Durst. Sein manisches Spiel setzt sich bis in den Schlaf hinein fort. Auf Essen verzichtet er und magert ab. Bei Aufregung bemisst er das Auf und Ab seiner Schritte unwillkürlich nach dem Maß seiner einstigen Zelle. 

Auch die charakterliche Diskrepanz zwischen Czentovic und Dr. B. manifestiert sich körperlich. So entspricht die Spielweise des Weltmeisters (»zäh, langsam und unerschütterlich«) seiner Körperhaltung. Er sitzt »unbeweglich vier Stunden vor dem Brett«, ohne die »breite« Stirn zu heben, ohne einmal aufzuschauen. Dr. B. hingegen zieht schnell, ja hastig, um dann hektisch im Salon auf- und abzurennen.

Es sind lauter Infizierte, die diese Novellen bevölkern, Sklaven ihrer Obsessionen, in der SCHACHNOVELLE ist es ja nicht allein Dr. B., der dem Spiel mit offensichtlich ungesunder Intensität frönt. Alle Charaktere werden hier im Grunde über ihre Beziehung zum Schach definiert. 

Schach als Leidenschaft ist in der Schachnovelle deutlich erotisch besetzt. Im Zusammenhang mit seinem Versuch, an Bord zunächst andere Schachspieler und dann den Weltmeister durch ostentatives Schachspiel anzulocken, meint der Erzähler, für Schach sei »wie für die Liebe ein Partner unentbehrlich«. Die geistige Selbstbefriedigung erweist sich allerdings als ungesund und gefährlich. Der Krankheitsverlauf seiner »Schachvergiftung« belegt die alte Weisheit der Arzneimittelkunde: »Auf die Dosis kommt es an.« So wie in der Medizin ein Remedium bei zu hoher Dosierung zum Gift wird, entfaltet auch hier die Beschäftigung mit dem Schachspiel erst nach Übergenuss ihre toxische Wirkung.

In der SCHACHNOVELLE beweist Stefan Zweig einmal mehr seine Liebe zum unterlegenen, zum gestrauchelten Helden.

Was Dr. B. erleidet, wieder erringt, ist eine triumphale Niederlage - und zwar gleich doppelt. Zweig führt vor, wie ein Mensch über sich hinaus ins Freie wächst, dem Druck seiner Peiniger standhält und sogar die physische Freiheit wiedererlangt. Ein Triumph, aber auch eine Niederlage, denn die Freiheit hat ihren Preis, den Preis der Gesundheit, des Glücks, der Seelenruhe. Dr. B. ist ein Gezeichneter. Als solcher erlebt er an Bord des Dampfers sein zweites glorioses Debakel oder auch: seinen zweiten Pyrrhussieg.

Daniela Strigl

Nils Strunk
© Lukas Richthammer

Klemens Renoldner über die SCHACHNOVELLE

Die Anerkennung, die die SCHACHNOVELLE sowohl in der zeitgenössischen Rezeption als auch in der heutigen Wahrnehmung vom Lesepublikum und im literaturwissenschaftlichen Diskurs erfährt, berechtigt zu der Annahme, wir haben es mit einem bedeutenden Werk Zweigs zu tun.

Bedeutend ist die Erzählung aber keineswegs nur deswegen, weil Zweigs Stil — im Vergleich mit seinen früheren Prosatexten — nüchterner ausgefallen ist, weil sie als Novelle ideal konzipiert ist und das Schachspiel in ihr eine so dramatische Rolle spielt. 

Zweig macht aus der brasilianischen Entfernung die Auslöschung Österreichs durch Hitlers Soldaten in der SCHACHNOVELLE zum Thema. Sie ist ein letzter ohnmächtiger Versuch einer Rückversicherung mit der eigenen Heimat, die Zweig verloren hatte. In seinen Briefen der letzten eineinhalb Lebensjahre ist zu lesen, wie oft der gewählte Aufenthaltsort sofort wieder in Frage gestellt wird. Seit Lotte und Stefan Zweig im Juli1940 England verlassen haben, beherrschen ihn oft täglich wechselnde Phantasien, wo er sich eine neue Heimat finden könnte. Schon am 1. Mai 1936 äußerte er in einem Brief an Joseph Roth: »Ich habe Angst um Österreich und der Fall Österreichs wäre auch innerlich unser Untergang«.

Entsprechend ruft Zweig in seiner letzten Erzählung noch einmal Bilder jener für immer verlorenen Welt und damit das Wien seiner Kindheit und Jugend auf. Die Schiffsreise, Symbol und Synonym für das ungewisse Lebensgeschick, ist gleichzeitig auch ein Bild der Ort- und Heimatlosigkeit; heimatlos sind jene, »die sich an Bord befinden; denn die haben im wahrsten Sinne des Wortes das Land, den Boden unter den Füßen verloren«. Zweig hat mehrere solcher Atlantik-Überquerungen, von West nach Ost, von Nord nach Süd, und umgekehrt unternommen. Also gilt es in der SCHACHNOVELLE noch ein letztes Mal heimatliche Konnotationen herzustellen. Noch einmal Österreich, noch einmal Wien, der alte Kaiser und sein Leibarzt, Franz Schubert, das barocke Kloster Seitenstetten in Niederösterreich. Aber nicht Verklärung ist hier am Werk, denn die neuesten politischen Umstände sind erschütternd: Hitlers Soldaten haben das Land besetzt, Österreich hat aufgehört zu existieren, und jeder, der den Nationalsozialisten missfällt oder sich gar gegen sie auflehnt, muss mit dem Tod oder mindestens mitseiner Verhaftung rechnen. 

Man würde die Erzählung aber falsch verstehen, wenn man sie als Kommentar zur österreichischen Politik, wie ein Statement zur Zeit oder wie einen politischen Essay lesen und entsprechend befragen würde. Auch ist es müßig, angesichts dieser Erzählung über Kraft oder Schwäche des österreichischen Widerstands nachzudenken. Er ist zweifellos nicht Thema der Novelle: Derjenige, der sich darüber informieren möchte, wie Zweig über die Ausschaltung der Demokratie, über den Austrofaschismus, die Aktivitäten der »illegalen« Nazis und den aggressiver werdenden Antisemitismus in Österreich gedacht, wie sehr er die österreichischen Politiker dieser Jahre verachtet hat, der kann dies in Zweigs Briefen an seine Freunde nachlesen, z.B. im Briefwechsel mit seinem französischen Freund Romain Rolland, dem besten Dokument über Zweigs Verhältnis zum Politischen. 

Andererseits nimmt die SCHACHNOVELLE innerhalb des Prosawerks von Zweig auch deswegen eine besondere Position ein, weil es seine einzige Erzählung ist, in der der Autor direkt auf die politische Wirklichkeit Österreichs im Jahr 1938 und auf den Terror des Nationalsozialismus Bezug nimmt. Wissend, was den Juden nicht nur in Deutschland, sondern auch in Österreich und in ganz Europa widerfährt wählte er mit Bedacht nicht einen jüdischen, sondern einen dem Klerus nahestehenden katholischen Anwalt, der der Wiener Aristokratie geneigt war. Dies geschieht nicht, weil Zweig irgendwelche monarchistischen Sehnsüchte hegte, sondern aus Zurückhaltung: Zweig war, was persönliche Anliegen betrifft, ein Mann von äußerster Diskretion und scheute sich, im eigenen Interesse zu sprechen. 

Zweig, der sich für sehr viele Flüchtlinge aus Europa engagierte und dabei auch in finanzieller Hinsicht großzügig war, wusste durchaus, dass er sich im Gegensatz zu vielen mittellosen Emigranten vergleichsweise in privilegierter Lage befand. 

In diesem Sinne zeugt die SCHACHNOVELLE nicht nur von der Erfahrung einer existentiellen Krise, von größter Verzweiflung und Ohnmacht, sondern auch von der befreienden Utopie, von der Überwindung von Terror - und Not — obwohl diese Erlösung aus Verzweiflung und Depression für den Autor im realen Leben nicht möglich war. 

Warum die SCHACHNOVELLE heute noch so anspricht, liegt zum einen in der Dramatik, an der Spannung des Wettkampfs zweier ungleicher Partner sowie an der klugen Dramaturgie des Spielverlaufs. Schach, das intelligente Spiel der Könige, bei dem es nicht, wie bei vielen anderen Spielen, auf Glück und Zufall, sondern auf gedankliche Meisterschaft und Kombinations-Begabung ankommt, hat schon immer nicht nur die Spieler selbst, sondern auch die Umstehenden fasziniert.

Der besondere Reiz der SCHACHNOVELLE liegt aber zum anderen darin, dass Zweig in der Novelle gegensätzliche Sphären miteinander verbindet und lebendig werden lässt, nämlich die lässige, Luxus-Weltläufigkeit der flanierenden Gäste auf dem Promenadendeck eines ruhig durch den Atlantik in Richtung Süden ziehenden großen Schiffes einerseits und die nervöse Gegenwelt, den verbissenen Kampf an einem winzigen Tischchen andererseits. Weitere Gegensätze verstärken die Faszination: hier die wohlhabenden Reisenden auf dem Weg in eine »Neue Welt« und mitten unter ihnen ein Mitreisender, der, ohne dass sie es wissen, in Wien vor kurzem in der Isolationshaft der Gestapo saß. 

Wie so oft bei großen Texten der Weltliteratur könnte die besondere Wirkung der SCHACHNOVELLE auch an der Vielfältigkeit der Themen und dem Kosmos von Motiven und Bezügen liegen. Dass es sich, über die konkreten Zeitumstände hinaus, auch um die Darstellung einer existentiellen Krise des Individuums, um Traumatisierung und psychotische Not handelt, verstärkt den Leseeindruck. 

Dass man schließlich seinen Zugang zur SCHACHNOVELLE aber auch über die politischen Koordinaten der Binnenhandlung wählen und die Geschichte Österreichs und des Nationalsozialismus rekapitulieren kann, bietet einen zusätzlichen Anreiz.

Klemens Renoldner

MEHR VON STEFAN ZWEIG

Ich hatte in meinem Leben noch nie Gelegenheit gehabt, die persönliche Bekanntschaft eines Schachmeisters zu machen, und je mehr ich mich jetzt bemühte, mir einen solchen Typus zu personifizieren, umso unvorstellbarer schien mir eine Gehirntätigkeit, die ein ganzes Leben lang ausschließlich um einen Raum von vierundsechzig schwarzen und weißen Feldern rotiert. 
Ich wusste wohl aus eigener Erfahrung um die geheimnisvolle Attraktion des »königlichen Spiels«, dieses einzigen unter allen Spielen, die der Mensch ersonnen, das sich souverän jeder Tyrannis des Zufalls entzieht und seine Siegespalmen einzig dem Geist oder vielmehr einer bestimmten Form geistiger Begabung zuteilt. 

Aber macht man sich nicht bereits einer beleidigenden Einschränkung schuldig, indem man Schach ein Spiel nennt? Ist es nicht auch eine Wissenschaft, eine Technik, eine Kunst, (…) eine einmalige Bindung aller Gegensätzepaare: uralt und doch ewig neu, mechanisch in der Anlage und doch nur wirksam durch Phantasie, begrenzt in geometrisch starrem Raum und dabei unbegrenzt in seinen Kombinationen, ständig sich entwickelnd und doch steril, ein Denken, das zu nichts führt, eine Mathematik, die nichts errechnet, eine Kunst ohne Werke, eine Architektur ohne Substanz und nichts destominder erwiesenermaßen dauerhafter in seinem Sein und Dasein als alle Bücher und Werke, das einzige Spiel, das allen Völkern und allen Zeiten zugehört und von dem niemand weiß, welcher Gott es auf die Erde gebracht, um die Langeweile zu töten, die Sinne zu schärfen, die Seele zu spannen.

Stefan Zweig

Dass etwas Neues in der Kunst sich vorbereitete, etwas, das leidenschaftlicher, problematischer, versucherischer war, als was unsere Eltern und unsere Umwelt befriedigt hatte, war das eigentliche Erlebnis unserer Jugendjahre. Aber fasziniert von diesem einen Ausschnitt des Lebens, merkten wir nicht, dass diese Verwandlungen im ästhetischen Raume nur Ausschwingungen und Vorboten viel weiterreichender Veränderungen waren, welche die Welt unserer Väter, die Welt der Sicherheit erschüttern und schließlich vernichten sollten. Eine merkwürdige Umschichtung begann sich in unserem alten schläfrigen Österreich vorzubereiten. Die Massen, die stillschweigend und gefügig der liberalen Bürgerschaft durch Jahrzehnte die Herrschaft gelassen, wurden plötzlich unruhig organisierten sich und verlangten ihr eigenes Recht. Gerade in dem letzten Jahrzehnt brach die Politik mit scharfen, jähen Windstößen in die Windstille des behaglichen Lebens. Das neue Jahrhundert wollte eine neue Ordnung, eine neue Zeit.

Die erste dieser großen Massenbewegungen in Österreich war die sozialistische. Bisher war bei uns das fälschlich so benannte »allgemeine« Wahlrecht nur Begüterten zugeteilt gewesen, die eine bestimmte Steuerleistung aufzuweisen hatten. Die von dieser Klasse gewählten Advokaten und Landwirte aber glaubten ehrlich und redlich, dass sie im Parlament die Sprecher und Vertreter des »Volkes« wären, Sie waren sehr stolz darauf, gebildete Leute, womöglich akademisch gebildete zu sein, sie hielten auf Würde, Anstand und gute Diktion; in den Sitzungen des Parlaments ging es darum zu wie bei dem Diskussionsabend eines vornehmen Klubs. Dank ihrem liberalistischen Glauben eine durch Toleranz und Vernunft unfehlbar fortschrittliche Welt meinten diese bürgerlichen Demokraten ehrlich, mit kleinen Konzessionen und allmählichen Verbesserungen das Wohl ihrer Untertanen auf die beste Weise zu fördern. Aber sie hatten vollkommen vergessen, dass sie nur die fünfzigtausend oder hunderttausend Wohlsituierten in den großen Städten repräsentierten und nicht die Hunderttausende und Millionen des ganzen Landes. Inzwischen hatte die Maschine ihr Werk getan und um die Industrien die früher verstreute Arbeiterschaft gesammelt; unter der Führung eines eminenten Mannes, Dr. Victor Adler, bildete sich in Österreich eine sozialistische Partei, um die Ansprüche des Proletariats durchzusetzen, das ein wirklich allgemeines und für jeden gleiches Wahlrecht forderte; kaum es dann gewährt oder vielmehr erzwungen war, wurde man gewahr, eine wie dünne, wenn auch hochwertige Schicht der Liberalismus gewesen. Mit ihm verschwand aus dem öffentlichen politischen Leben die Konzilianz, Interessen stießen jetzt hart gegen Interessen, es begann der Kampf.

Ich erinnere mich noch aus meiner frühesten Kindheit an den Tag, der die entscheidende Wendung im Aufstieg der sozialistischen Partei in Österreich brachte; die Arbeiter hatten, um zum erstenmal ihre Macht und Masse optisch zu zeigen, die Parole ausgegeben, den ersten Mai als Feiertag des arbeitenden Volkes zu erklären, und beschlossen, in geschlossenem Zuge in den Prater zu ziehen, und zwar in die Hauptallee, wo sonst an diesem Tage nur die Wagen und Equipagen der Aristokratie und der reichen Bürgerschaft in der schönen breiten Kastanienallee ihren Korso hielten. Entsetzen lähmte bei dieser Ankündigung die gute liberale Bürgerschaft. Sozialisten, das Wort hatte damals in Deutschland und Österreich etwas vom blutigen und terroristischen Beigeschmack wie vordem das Wort Jacobiner und später das Wort Bolschewisten; man konnte es im ersten Augenblick gar nicht für möglich halten, dass diese rote Rotte aus der Vorstadt ihren Marsch durchführen werde, ohne Häuser anzuzünden, Läden zu plündern und alle denkbaren Gewalttaten zu begehen. Eine Art Panik griff um sich. Die Polizei der ganzen Stadt und Umgebung wurde in der Praterstraße postiert, das Militär schussbereit in Reserve gestellt. Keine Equipage, kein Fiaker wagte sich in die Nähe des Praters, die Kaufleute ließen die eisernen Rolläden vor den Geschäften herunter, und ich erinnere mich, dass die Eltern uns Kindern streng verboten, all diesem Schreckenstage, der Wien in Flammen sehen konnte, die Straße zu betreten. Aber nichts geschah. Die Arbeiter marschierten mit ihren Frauen und Kindern in geschlossenen Viererreihen und mit vorbildlicher Disziplin in den Prater, jeder die rote Nelke, das Parteizeichen, im Knopfloch. 

Sie sangen im Maschieren die Internationale, aber die Kinder fielen dann im schönen Grün der zum erstenmal betretenen »Nobelallee« in ihre sorglosen Schullieder. Es wurde niemand beschimpft, niemand geschlagen, keine Fäuste geballt; kameradschaftlich lachten die Polizisten, die Soldaten ihnen zu. Dank dieser tadellosen Haltung war es dem Bürgertum dann nicht mehr lange möglich, die Arbeiterschaft als eine »revolutionäre Rotte« zu brandmarken, es kam — wie immer im alten und weisen Österreich zu gegenseitigen Konzessionen; noch war das heutige System der Niederknüpplung und Ausrottung nicht erfunden, noch das (frei-lich schon verblassende) Ideal der Humanität selbst bei den Parteiführern lebendig.

Kaum tauchte die rote Nelke als Parteiabzeichen auf, so erschien plötzlich eine andere Blume im Knopfloch, die weiße Nelke, das Zugehörigkeitszeichen der christlich-sozialen Partei (ist es nicht rührend, dass man damals noch Blumen als Partei-Zeichen wählte statt Stulpenstiefeln, Dolchen und Totenköpfen?). Die christlich-soziale als durchaus kleinbürgerliche Partei war eigentlich nur die organische Gegenbewegung der proletarischen und im Grunde ebenso wie sie ein Produkt des Sieges der Maschine über die Hand. Denn indem die Maschine durch die Zusammenfassung großer Massen in den Fabriken den Arbeitern Macht und sozialen Aufstieg zuteilte, bedrohte sie gleichzeitig das kleine Handwerk. Die großen Warenhäuser, die Massenproduktion wurden für den Mittelstand und für die kleinen Meister mit ihren Handbetrieben zum Ruin. Dieser Unzufriedenheit und Sorge bemächtigte sich ein geschickter und populärer Führer, Dr. Karl Lueger, und riss mit dem Schlagwort: »dem kleinen Manne muss geholfen werden« das ganze Kleinbürgertum und den verärgerten Mittelstand mit sich, dessen Neid gegen die Wohlhabenden bedeutend geringer war als die Furcht, aus seiner Bürgerlichkeit in das Proletariat abzusinken. Es war genau die gleiche verängstigte Schicht, wie sie später Adolf Hitler als erste breite Masse um sich gesammelt hat, und Lueger ist auch in einem andern Sinne sein Vorbild gewesen, indem er ihn die Handlichkeit der antisemitischen Parole lehrte, die den unzufriedenen Kleinbürgerkreisen einen Gegner optisch zeigte und anderseits zugleich den Hass von den Großgrundbesitzern und dem feudalen Reichtum unmerklich ablenkte.

Aber die ganze Vulgarisierung und Brutalisierung der heutigen Politik, der grauenhafte Rückfall unseres Jahrhunderts zeigt sich gerade im Vergleich der beiden Gestalten. Karl Lueger, mit seinem weichen blonden Vollbart eine imposante Erscheinung — der »schöne Karl« im Wiener Volksmund genannt — hatte akademische Bildung und war nicht vergebens in einem Zeitalter, das geistige Kultur über alles stellte, zur Schule gegangen. Er konnte populär sprechen, war vehement und witzig, aber selbst in den heftigsten Reden— oder solchen, die man zu jenen Zeiten als heftig empfand — überschritt er nie den Anstand, und seinen Streicher, einen gewissen Mechaniker Schneider, der mit Ritualmordmärchen und ähnlichen Vulgaritäten operierte, hielt er sorgfältig im Zaum. 

Gegen seine Gegner bewahrte er — unanfechtbar und bescheiden in seinem Privatleben — immer eine gewisse Noblesse, und sein offizieller Antisemitismus hat ihn nie gehindert, seinen früheren jüdischen Freunden wohlgesinnt und gefällig zu bleiben. Als seine Bewegung schließlich den Wiener Gemeinderat eroberte und er — nach zweimaliger Verweigerung der Sanktionierung durch den Kaiser Franz Joseph, der die antisemitische Tendenz verabscheute — zum Bürgermeister ernannt wurde, blieb seine Stadtverwaltung tadellos gerecht und sogar vorbildlich demokratisch; die Juden, die vor diesem Triumph der antisemitischen Partei gezittert hatten, lebten ebenso gleichberechtigt und angesehen weiter. Noch war nicht das Hassgift und der Wille zu gegenseitiger restloser Vernichtung in den Blutkreislauf der Zeit gedrungen. 

 

Aber schon tauchte eine dritte Blume auf, die blaue Kornblume, Bismarcks Lieblingsblume und Wahrzeichen der deutschnationalen Partei, die — man verstand es nur damals nicht – eine bewusst revolutionäre war, die mit brutaler Stoßkraft auf die Zerstörung der österreichischen Monarchie zu Gunsten eine Hitler vorgeträumten — Großdeutschlands unter preußischer und protestantischer Führung hinarbeitete. 

Während die christlich-soziale Partei in Wien und am Lande, die sozialistische den Industriezentren in ihre Anhänger verankert war, hatte die deutschnationale ihre Anhänger fast einzig in den böhmischen und alpenländischen Randgebieten; zahlenmäßig schwach, ersetzte sie ihre Unbeträchtlichkeit. Ihre paar Abgeordneten durch wilde Aggressivität und maßlose Brutalität.

Ihre paar Abgeordneten wurden der Terror und (im alten Sinn) die Schande des österreichischen Parlaments; in ihren Ideen, in ihrer Technik hat Hitler, gleichfalls ein Randösterreicher, seinen Ursprung.

Was für Was für den Nationalsozialismus SA-Männer leisteten, die Versammlungen mit Gummiknüppeln zersprengten, Gegner nachts überfielen und zu Boden hieben, besorgten für die Deutschnationalen die Corpsstudenten, unter dem Schutz der akademischen Immunität einen Prügelterror ohnegleichen etablierten und bei jeder politischen Aktion auf Ruf und Pfiff militärisch organisiert aufmarschierten. Zu sogenannten »Burschenschaften« gruppiert, zerschmissenen Gesichts, versoffen und brutal, beherrschten sie die Aula, weil sie nicht wie andern bloß Bänder und Mützen trugen, sondern mit harten, schweren Stöcken bewehrt waren; unablässig provozierend, hieben sie bald auf die slavischen, bald auf die jüdischen, die katholischen, die italienischen Studenten ein und trieben die Wehrlosen aus der Universität. Bel jedem »Bummel« so hieß jener Samstag der Studentenparade) floss Blut. 

Wo immer die winzige, aber maulaufreißerische Partei der Deutschnationalen in Österreich etwas erzwingen wollte, schickte sie diese studentische Sturmtruppe vor; als Graf Badeni unter Zustimmung des Kaisers und des Parlaments eine Sprachenverordnung beschlossen hatte, die Frieden zwischen den Nationen Österreichs schaffen sollte und wahrscheinlich den Bestand der Monarchie noch um Jahrzehnte verlängert hätte, besetzte diese Handvoll junger, verhetzter Burschen die Ringstraße. Kavallerie musste ausrücken, es wurde mit dem Säbel zugeschlagen und geschossen. Aber so groß war in jener tragisch schwachen und rührend humanen liberalen Ära der Abscheu vor jedem gewalttätigen Tumult und jedem Blutvergießen, dass die Regierung vor dem deutschnationalen Terror zurückwich. 

Der Ministerpräsident demissionierte, und die durchaus loyale Sprachenverordnung wurde aufgehoben. Der Einbruch der Brutalität in die Politik hatte seinen ersten Erfolg zu verzeichnen. Alle die unterirdischen Risse und Sprünge zwischen den Rassen und Klassen, die das Zeitalter der Konzilianz so mühsam verkleistert hatte, brachen auf und wurden Abgründe und Klüfte. In Wirklichkeit hatte in jenem letzten Jahrzehnt vor dem neuen Jahrhundert der Krieg aller gegen alle in Österreich schon begonnen.

Wir jungen Menschen aber, völlig eingesponnen in unsere literarischen Ambitionen, merkten wenig von diesen gefährlichen Veränderungen in unserer Heimat: wir blickten nur auf Bücher und Bilder. Wir hatten nicht das geringste Interesse für politische und soziale Probleme: was bedeuteten diese grellen Zänkereien in unserem Leben? Die Stadt erregte sich bei den Wahlen, und wir gingen in die Bibliotheken, Die Massen standen auf, und wir schrieben und diskutierten Gedichte. Wir sahen nicht die feurigen Zeichen an der Wand, wir tafelten wie weiland König Belsazar unbesorgt von all den kostbaren Gerichten der Kunst, ohne ängstlich vorauszublicken. Und erst als Jahrzehnte später Dach und Mauern über uns einstürzten, erkannten wir, dass die Fundamente längst unterhöhlt gewesen waren und mit dem neuen Jahrhundert zugleich der Untergang der individuellen Freiheit in Europa begonnen hatte.

Stefan Zweig

Stefan Zweig wurde 1881 in Wien geboren, er stammt aus einer wohlhabenden jüdischen Familie. Schon früh entwickelt er eine Leidenschaft für alle Arten von Kunst; Poesie, Literatur und Theater. Im Laufe seines Studiums und seiner zahlreichen Reisen folgt er dem ausgeprägten Humanismus und entwickelt zugleich ein starkes Zugehörigkeitsgefühl zur europäischen Kultur. Er nähert sich berühmten Schriftstellern wie Émile Verhaeren, Romain Rolland, Jules Romains und dem österreichischen Lyriker Rainer Maria Rilke.

Seine Bücher lässt er im Insel Verlag in Leipzig, mit dessen Verleger Anton Kippenberg er freundschaftlich verbunden ist, publizieren. Der Verlag wird Zweig in den Jahren des Ersten Weltkrieges zur geistigen Heimatstätte. Er reist viel, unter anderem besucht er 1910 Britisch- und Niederländisch-Indien sowie 1912 Amerika. 1917 wird er vom Militärdienst, den er im Militärarchiv verbringt, beurlaubt, später entlassen. Er zieht nach Zürich in die neutrale Schweiz, arbeitet dort als Korrespondent für die Wiener Neue Freie Presse und publiziert seine humanistische, den partei- und machtpolitischen Interessen völlig fernstehende Meinung auch in der deutschsprachigen Zeitung Pester Lloyd. Nach Kriegsende kehrt Zweig nach Österreich zurück; zufälligerweise reist er an jenem 24. März 1919 ein, an dem der letzte österreichische Kaiser, Karl I., ins Exil in die Schweiz Österreich verlässt.

In Salzburg, Mitte der 1920er Jahre, beginnt Zweigs literarischer Welterfolg. Die Novellen-Bände AMOK (1922) und VERWIRRUNG DER GEFÜLE (1926) sowie die historischen Biographien über Joseph Fouché (1929) und Marie Antoinette (1932) werden nicht nur im deutschsprachigen Raum begeistert aufgenommen, innerhalb von wenigen Jahren wird Zweigs Werk in zwanzig, dreißig Sprachen übersetzt. Auch mit der Uraufführung von seiner Komödie VOLPONE am Wiener Burgtheater (1926) und der Veröffentlichung der historischen Miniaturen STERNSTUDEN DER MENSCHHEIT (1927) kann Zweig enorme Erfolge feiern. Wo auch immer er auftritt, bei Lesungen und Vorträgen in europäischen Ländern, in den USA und in Lateinamerika, überall findet er ein begeistertes Publikum. Als engagierter Intellektueller und Pazifist tritt Stefan Zweig vehement gegen Nationalismus ein und wirbt für die Idee eines geistig geeinten Europas – zu Zeit als diese Idee noch eine Utopie ist. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten im Deutschen Reich im Jahre 1933 und als deren Einfluss auch in Österreich in Form von Bombenterror und unverhohlenen Auftritten der SA spürbar wird, emigriert er 1934 nach London. 1935 wird Zweig auf die Liste der Bücherverbrennungen gesetzt und in die Liste verbotener Autoren aufgenommen. Im österreichischen Ständestaat wird er weiterhin sehr geschätzt, während er im nationalsozialistischen Deutschland als „unerwünscht“ gilt. Sein reichsdeutscher Verleger, Anton Kippenberg vom Insel Verlag, muss sich von seinem bedeutendsten Erfolgsautor trennen. Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges nimmt Stefan Zweig die britische Staatsbürgerschaft an. Er zieht mit seiner Frau im Juli 1939 von London nach Bath und kauft sich dort ein Haus, verlässt aber bald Großbritannien aus Furcht, dass die Engländer keinen Unterschied zwischen Österreichern und Deutschen machen könnten und ihn dann als „Enemy Alien“ (feindlicher Ausländer) internieren würden.

Über die Stationen New York, Argentinien und Paraguay kommt er im Jahr 1940 schließlich nach Brasilien, einem Land, das ihm schon bei seinem Erstbesuch im Jahr 1936 eine triumphale Begrüßung bereitet hatte und für das er eine permanente Einreiseerlaubnis besitzt. 1941 erscheint die Monografie BRASILIEN und 1942 sein bedeutendes letztes Werk bedeutendes Werk SCHACHNOVELLE, posthum erscheint seine Autobiografie unter dem Titel DIE WELT VON GESTERN. In der Nacht vom 22. zum 23. Februar 1942, einen Tag nachdem er das Typoskript der SCHACHNOVELLE zur Post bringt, begeht er gemeinsam mit seiner Frau Lotte in Petrópolis Suizid.

Als begeisterter Europäer, gehört er zu den meistgelesenen deutschsprachigen Autoren des zwanzigsten Jahrhunderts. Seine Romane, Erzählungen und Biographien liegen heute in mehr als fünfzig Sprachen vor.

BÜHNENBILD

Das Bühnenbild von Maximilian Lindner verwendet Zeichnungen von Herbert Nauderer. 

 

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